Alvar Aaltos Kirchen für Wolfsburg

Aalto
Alvar Aalto (c) Kirchenführer

Der große finnische Architekt Alvar Aalto entwarf für Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg insgesamt sechs Bauten: Wohnfachhäuser in Berlin (1957) und Bremen (1962), das Essener Opernhaus (Entwurf 1959, fertiggestellt 1988), für die Automobilstadt Wolfsburg ein Kulturzentrum (1962) und zwei Gemeindezentren. Die 1962 fertiggestellte Heilig-Geist-Kirche und die 1968 eingeweihte Stephanus-Kirche zählen heute zu den herausragenden baukünstlerischen Zeugnissen der Internationalen Moderne in Deutschland. Gemeinsam mit Hans Scharouns Theater repräsentieren Aaltos Bauten Weltarchitektur in Wolfsburg. dennoch haben die beiden Kirchen, die längst unter Denkmalschutz stehen, in der regen Debatte um den modernen Sakralbau in der Nachkriegszeit nur vergleichsweise geringe Beachtung gefunden. Sie lassen im Vergleich mit den anderen Gotteshäusern der Stadt eine eigenwillige und in manchem auch radikale Auffassung vom liturgischen Raum erkennen, die Alvar Aalto, damals auf dem Höhepunkt seines Ruhmes, gegenüber dieser alten und traditionsbelasteten Bauaufgabe schon sehr früh eingenommen hatte.

Aalto als Kirchenbauer

Alvar Aalto (1898-1976) war, als er in Wolfsburg tätig wurde, neben Le Corbusier und Ludwig Mies van der Rohe eine weltweit anerkannte und maßstabsetzende Symbolfigur der Internationalen Moderne. Im Unterschied zu diesen Architekten spielte jedoch der Kirchenbau im Schaffen des Finnen von Anfang an eine wichtige Rolle. Sein Werkverzeichnis notiert insgesamt 37 sakrale Bauprojekte, darunter 22 Kirchen, 4 Entwürfe für Friedhofsanlagen und -kapellen, sogar eine Moschee. Hinzu kamen Restaurierungs- und Ausstattungsprojekte für historische Kirchen, Entwürfe für Pfarrhäuser und Grabmale. Sieben Kirchen - sechs für protestantische Gemeinden und ein katholisches Gotteshaus - kamen zur Ausführung, davon vier Bauten in Finnland, einer in Italien und zwei in Deutschland. Der erste ausgeführte Kirchenbau in Muurame (1926-1929) zeigt Aalto noch als historisch gestaltenden Neoklassizisten mit starker Leidenschaft für Italien. Seine Wettbewerbsbeiträge aus dem Jahrzehnt  vor dem Zweiten Weltkrieg lassen jedoch erkennen, wie entschieden er sich beim Entwurf von Kirchen dem antihistorischen Architekturvokabular des Funktionalismus zuwandte. Dieser Stilwechsel war wie bei vielen Architekten jener Jahre weniger Entwicklung als Entscheidung gewesen. Mit der Kirche "Zu den drei Kreuzen" in Vuoksenniska bei Imatra (1956-58) in Südostfinnland fand Aalto erstmals als Kirchenarchitekt internationale Beachtung. Kurz darauf entstanden die Kirchen im mittelfinnischen Seinäjoki (1958-60) und in Wolfsburg (Heilig-Geist 1959-62, Stephanus 1965-68), schließlich die Pfarrkirche Santa Maria Assunta in Riola bei Bologna (Projekt 1966-68, vollendet 1978) und die Kreuzkirche im südfinnischen Lahti (Projekt 1970, vollendet 1979), die beide erst nach Aaltos Tod fertiggestellt werden konnten.
Die Kirche in Vuoksenniska und die Wolfsburger Heilig-Geist-Kirche sind in ihrer Formgebung nach die spektakulärsten Sakralbauten Aaltos. Die Heilig-Geist Kirche, die der Wolfsburger Fotograf Heinrich Heidersberger gleich nach ihrer Fertigstellung in meisterhaften Aufnahmen mit einem Zug ins Grandiose ablichtete, ist ohne Zweifel eine der besten Arbeiten Aaltos überhaupt. Beide Kirchen lassen erkennen, daß Aalto als Architekt kein Zweckdenker war, sondern frei gestaltender Künstler, der bekanntlich auch ein beachtliches skulpturales und malerisches Werk hinterlassen hat, das in vielfältig Weise mit seinem Bauschaffen verschränkt ist. Die weniger extravagante und strengere Architektur der Stephanus-Kirche hat ebenfalls Qualität, die Aaltos einzigartigen Rang als Schöpfer moderner Sakralarchitektur mit bis heute aktueller Botschaft bezeugen.

Zur Geschichte der Kirchengemeinden
Heilig-Geist und Stephanus

Die ältesten Kirchen Wolfsburgs sind die Spätromisch-frühgotische St. Annen-Kirche im Stadtteil Hesslingen (erbaut um 1200) und die St. Marien-Kirche in Alt-Wolfsburg in der Nähe des Renaissanceschlosses im Norden der Stadt im Norden der Stadt, als Kapelle erstmals 136 erwähnt, ein Bau aus der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, der 1825 klassizistisch umgestaltet wurde. Heilig-Geist- und Stephanus-Gemeinde, beide im Süden Wolfsburgs gelegen, haben eine gemeinsame Geschichte. Heilig-Geist ist die Muttergemeinde der Stephanusgemeinde. Bis 1964 gehörten die Stadtteile Detmerode und Rabenberg zu Heilig-Geist. Im Zuge der Fertigstellung des Neubaugebietes Detmerode ging die Stephanusgemeinde als nunmehr selbständige Gemeinde aus der Heilig-Geist-Gemeinde hervor.
1938 wurde die "Stadt des KdF-Wagens" (die erst seit 1945 den Namen Wolfsburg trägt) in verkehrsgünstiger Lage an Mittellandkanal und neuer Ost-West-Auto- und Eisenbahn gegründet. Im ersten Bebauungsplan von Albert Speer und Peter Koller, der nach 1945 auch als Kirchenbauer hervortrat, hatten die nationalsozialistischen Planer - im Unterschied etwa zur benachbarten Stadtneugründung Salzgitter - Bauplätze für Kirchen immerhin noch ausgewiesen. Gebaut wurde indes vor 1945 keine einzige. Im Zusammenhang mit dem wachsen des Volkswagen-Werkes nach dem Krieg kam es in den Jahren der "Wirtschaftswunders" zu einem enormen Bevölkerungszuwachs. In kaum zwei Jahrzehnten entstanden 10 neue Kirchen in der Stadt. Heute gehören sie ebenso wie das gigantische Automobilwerk und die großen Kulturbauten zu den markanten Punkten des Stadtbildes.
Im Stadtgebiet gab es bis zum 31. Dezember 1960 nur eine große evangelische Gesamtgemeinde, die mehrere Kirchen unterhielt. Die von Gerhard Langmaack 1950-1952 im Stadtzentrum errichtete Christuskirche war der erste Kirchenneubau in Niedersachsen nach dem Krieg. 1954 erließ die Stadt eine Bebauungssatzung für das Wohngebiet Klieversberg Süd und Eichelkamp. Die ersten Wohnhäuser wurden 1957 fertig, um 1960 war der neue Stadtteil fast vollendet und bezogen. Jetzt fehlte nur noch ein kirchliches Zentrum. Mit dem 1. Januar 1661 war die evangelische Gesamtgemeinde Wolfsburg in sieben selbständige Kirchengemeinden aufgeteilt worden. Der Aufbau der neuen Kirchengemeinde Heilig-Geist lag in den Händen von Pastor Egon Meyer, der seit 1958 in Wolfsburg wirkte und den Bau des neuen Gemeindezentrum begleitete.
Die Gottesdienste der neuen Gemeinde fanden zunächst noch in der Christuskirche statt. Zu diesem Zweck stand zur sonntäglichen Gottesdienstzeit ein Zubringerbus bereit. Später konnte dann der Gottesdienst in einem Klassenraum der fertiggestellten Waldschule im Stadtteil Eichelkamp stattfinden. Zum Gemeindebezirk Heilig-Geist gehörten damals noch die Stadtteile Rabenberg und Detmerode. Zur Zeit des Kirchenneubaus zählte die Heilig-Geist-Gemeinde bei einer Gesamtbewohnerzahl im Stadtteil von 4000 rund 3000 Mitglieder, heute sind es 1400. 
Die Verbindung zu dem Weltberühmten Architekten ergab sich eher beiläufig. Die Idee zur Vergabe des Baus an Aalto und wichtige konzeptionelle Vorgaben zur Raumgestaltung kamen von Pastor Erich Bammel, dem Kirchenvorstandsvorsitzenden der Gesamtgemeinde. Er bezog sich mit wesentlichen Grundgedanken ausdrücklich auf Otto Bartning, den einflußreichsten Theoretiker des modernen evangelischen Kirchenbaus in der Jahrhundertmitte. Nachdem die Kirchengemeinden am 1. Januar 1961 selbständig geworden waren, ging die Verantwortung der Heilig-Geist-Gemeinde und damit für den Bau des Gemeindezentrums auf den Kirchenvorstand der Heilig-Geist-Gemeinde über.
Das Gemeindezentrum Heilig-Geist wurde gleichzeitig mit dem Kulturzentrum in der Stadtmitte gebaut, für das Aalto 1958 den Wettbewerb gewonnen hatte. Die Gemeinde erreichte so eine beachtliche Kostensenkung; außerdem kam ihm Aalto durch eine bescheidene Honorarforderung entgegen. Die Landeskirche hatte nämlich verfügt, daß die Auftragsvergabe an den Finnen nur unter der Voraussetzung geschehen dürfe, daß nicht höhere Kosten entstünden als durch die Beauftragung eines deutschen Architekten.
Aalto hatte eine Kirche mit 300 Sitzplätzen, 100 Zusatzplätzen und großer Chorempore einschließlich der zugehörigen Gemeindebauten zu planen. Den Auftrag dazu erteilte ihm die Gemeinde endgültig am 5. November 1958. Die Ausführungspläne lagen 1960 fertig vor, am 18. Juni 1961 fand der erste Spatenstich statt. Grundsteinlegung war am 12. August, das Richtfest folgte am 16. Oktober. Zum Osterfest 1962 war das Gemeindehaus fertig, im Gemeindesaal konnte ein erster Gottesdienst gefeiert werden. Die Bauleitung für die Heilig-Geist Kirche - später auch für die Stephanus-Kirche - lag in den Händen des Wolfsburger Architekten Dipl. Ing. Ernst Korritter. Nach knapp einjähriger Bauzeit fand die Weihe der Kirche am 6. Juni 1962 statt. Der ebenfalls von Aalto entworfene Kindergarten wurde ca. zwei Jahre später am 19. Oktober 1964 eröffnet. Heute, nach fast vier Jahrzehnten, bereiten Aaltos bauten mancherlei Sanierungsprobleme. Eine aufwendige Instandsetzung des in Beton ausgeführten Kirchturms der Heilig-Geist-Kirche wurde unter sorgsamer Beachtung denkmalpflegerische Kriterien im Jahre 1999 unter Wahrung des vom Architekten angestrebten Erscheinungsbildes durchgeführt.
Wesentlich für das Gelingen beider Kirchenbauprojekte war die Schlüsselrolle der Bauherrschaft, die mit klaren konzeptionellen Vorstellungen und entschiedenem Qualitätsanspruch die Gunst des Augenblickes dazu nutze, einen der wichtigsten Architekten des Jahrhunderts für sich zu gewinnen. Schon während der Planung des Heilig-Geist-Gemeindezentrums war den Verantwortlichen der hannoverschen Landeskirche klar, daß hier - so die Einschätzung von Prof. Dr. Ernst Witt, des ehemaligen Leiters des kirchlichen Bauamtes - "ein klassisches Bauwerk der modernen Architektur" entstehen würde.
Als der Bau des Stadtteils Detmerode begann, ergab sich auch dort die Notwendigkeit, ein kirchliches Gemeindezentrum zu errichten. Als Muttergemeinde von Stephanus übertrug die Heilig-Geist-Gemeinde diese Planung ebenfalls an Alvar Aalto. Die 1964 gegründete Stephanusgemeinde nahm dann die Weiterführung des Projektes in eigene Hände. Aalto nutze diese Gelegenheit, sein klar konturiertes Idealbild von Kirche einmal mehr in Wolfsburg zu verwirklichen - und dabei doch vieles ganz anders zu machen.

Das Stephanus-Gemeindezentrum in Detmerode

Der Pfarrbezirk des Stephanusgemeinde, die heute 2800 Gemeindeglieder zählt, gehörte bis 1964 zu Heilig-Geist. Als zu Beginn der 1960er Jahre mit dem Bau des Stadtteils Detmerode, einer Neubausiedlung mit ca. 5000 Wohnungen im Süden Wolfsburgs, begonnen wurde, erwies sich ein eigenes Gemeindezentrum als notwendig. Als Standort war in der stadtplanerischen Konzeption des Architekten Paul Baumgarten das Einkaufszentrum vorgesehen. der Zuspruch, den Aaltos Bau in der Muttergemeinde gefunden hatte, veranlaßte die neue Gemeinde, ihren Kirchenbau ebenfalls dem Finnen anzuvertrauen. 1962 lieferte Aalto einen ersten Vorentwurf, am 28. Februar 1964 wurde er endgültig mit dem Neubau des Gemeindezentrums betraut. Es sollte eine Kirche mit 250 ständigen Sitzplätzen entstehen, die bei besonderen Anlässen auf 600 zu erweitern waren. Außerdem war ein Gemeindezentrum mit ausgedehnten Funktions- und Wohnräumen zu errichten.
Der Bau begann am 5. August 1964 mit aufwendigen Geländearbeiten und dem Aufschütten des Baugrundes um 4 m. Der erste Spatenstich für den Kirchenneubau geschah daher erst am 19. September 1965, die Grundsteinlegung fand am 20. April 1966 statt, und das Richtfest konnte bereits am 19. August gefeiert werden. Dann jedoch kam es zu einer Bauunterbrechung wegen einer mit Heftigkeit einsetzenden Rezession. Die Baustelle lag bis Februar 1967 still. Erst am 29. Oktober 1967 konnte das fertiggestellte Gemeindehaus bezogen werden und im Rohbau der Kirche ein erster Gottesdienst gefeiert werden. Die Bauarbeiten an der Kirche wurden jedoch erst im Spätsommer des Jahres 1968 wieder aufgenommen. Die Einweihung der neuen Kirche fand daher erst nach ungewöhnlich langer, mehr als vierjähriger Bauzeit am 1. Advent 1968 statt.
Der im Bauprogramm vorgesehene Westflügel des Gemeindezentrums mit Pfarrwohnungen kam nicht zur Ausführung. Bis heute ist auch der Turm nicht fertiggestellt, ihm fehlen nach wie vor die Glocken und die lamellenförmige Holzverkleidung der Glockenstube.
1992/93 erfolgte eine Sanierung des Kirchturms und 1998 die Erneuerung der schadhafte gewordenen Mamorfassade. Die Tatsache, daß das Stephanusgemeindezentrum in wichtigen Details immer noch auf seine Vollendung wartet, hat sicher einiges dazu beigetragen, daß es unter den Sakralbauten Aaltos nicht die gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat.
Ein zweiter Architekt von Weltrang, zudem ein baukünstlerischer Wahlverwandter Aaltos, schuf übrigens den Kindergarten der Stephanusgemeinde an der Robert-Schuman-Straße. Das nach Entwurf von Hans Scharoun 1967-1970 errichtete Gebäude ist das einzige Beispiel dieser Baugattung, das der als Entwerfer für Schulen gerühmte Architekt errichten konnte.

Außenbau und städtebauliche Situation

Die Stephanus-Kirche steht weithin sichtbar auf einem kleinen Hügel mitten im städtischen Leben am Marktplatz westlich der Einkaufsbrücke und oberhalb der vielbefahrenden Hauptverkehrsstraße des Viertels. Wenn die Kirche, was die Dimensionen betrifft, auch nicht mit den Hochhäusern der Umgebung konkurrieren kann, so wirken doch der ungewöhnliche Turm und die weißglänzende Marmorfront des Kirchenschiffs aus der Fernsicht als städtebauliche Dominanten.
Zwei im rechten Winkel aufeinander zulaufende Einkaufsstraßen treffen sich auf dem kleinen quadratischen Marktplatz, dessen nördliche Raumkante die breite, fensterlose Eingangsfront der Kirche bildet. Diese ist mit strahlend weißem Carrara-Marmor verkleidet, einem von dem Nordländer Aalto sehr geschätzten und sogar in Finnland vielfach verwendeten Material. Kolonnadenartige Laubengänge vor den flachgedeckten Laden- und Wohngebäuden umgeben den Platz. Ein von dünnen Rundpfeilern gestütztes Kragdach ist auch der Kirche vorgeschaltet. So entsteht eine geradezu klassische urbane Raumbildung: ein städtischer Platz als allseits geschlossener Raum ohne Dach, mit einem Kirchenbau, der in die anderen Funktionen des alltäglichen Lebens straff eingebunden ist. Während die in gartenstädtischer Umgebung stehende Heilig-Geist-Kirche durch ihre ungewöhnliche Bauform Abstand zum Umfeld wahrt, sucht die Stephanus-Kirche engsten Anschluß an die Nachbarbebauung und erweist sich darin als sehr städtisch gedachte Architektur. Sie gehört daher zu den wenigen Bauten Aaltos, die eine klar hervorgehobene Hauptfassade haben. Deren Wirkung beruht auf der Konfrontation einer geschlossenen Baumasse mit der masselosen Skelettstruktur des Turmes. Dieser besteht aus neun dünnen Betonmasten (ursprünglich hatte Aalto 12 vorgesehen) und ist eigentlich nur ein filigraner Glockenständer. Bis heute ist er unfertig und funktionslos; es fehlen nicht nur die Glocken, sondern auch die von Aalto vorgesehene halbtransparente Einschließung der Glockenstube mit vertikalen Holzlamellen.
Mutet die kurvenreiche Architektur der Heilig-Geist-Kirche mit ihren lebhaften Formen organisch und dynamisch an, so ist die Stephanus-Kirche ihrem Formcharakter nach scharfkantig und kristallin. Sie entspricht damit der Stiltendenz von Aaltos Spätwerk, dessen Architektursprache sich in mancher Hinsicht wieder dem Funktionalismus der 1930er Jahre zuwendet. Der geometrischen Verhärtung entspricht dabei eine gesteigerte Kühle der Materialwirkung, die hier auf weißem Marmor und weiß getünchtem Kalkstein beruht.
Von Nordwesten bieten die Kirche und das Gemeindezentrum mit Saal, Büros, Bücherei, Clubraum und Küche sowie Gruppenräumen, Sakristei und Taufkapelle im Untergeschoß allerdings ein sehr viel bewegteres und kleinteiligeres Bild. Hier sind die Baukörper asymmetrisch am Hang empor gestaffelt. Aus dem Arrangement ineinander geschobener und vielfach versetzter Kuben steigt das Kirchendach, den Anstiegs des Hangs aufnehmend, empor. Der Turm wirkt als Krönung der Baugruppe. Den reservierten und ruhigen Ausdruck, den die monumentale Marktfront dem Treiben im Einkaufszentrum entgegenstellt, habt Aalto mit der lebhaft und irregulär gestalteten Gartenseite des Gemeindezentrums auf.

Der Innenraum

Einen stillen Kirchenvorplatz wie in Heilig-Geist gibt es in Detmerode nicht. Man betritt die Stephanus-Kirche werktags durch das weitläufige Foyer des Gemeindehauses, sonn- und feiertags dagegen durch das breite Südportal in der Mitte der Marktfront. Aus dem öffentlichen Raum gelangen die Gottesdienstbesucher unmittelbar in einen taghellen, hohen Innenraum, der nicht ausgesprochen "sakral" im üblichen Sinne wirkt. Der wie die Heilig-Geist-Kirche über trapezförmige Grundriss errichtete Raum wirkt weit, dabei aber recht kurz. Altar, Kanzel und Orgel sind auch hier in der für Aalto typischen Konstellation im Blickfeld der Gemeinde vereint und rücken dem Gottesdienstbesucher sehr nahe.
Die Kanzel hat ihrer gottesdienstlichen Bedeutung gemäß ein eigenes Raumkompartiment. Hinter ihr ist der Raum wie ein kleiner Chor polygonal umbrochen, so daß die Wand den Kanzelkorb wie eine hohle Hand als schallreflektierende Fläche hinterfängt.
Kreisrunde, hölzerne Schallreflektoren sind unter die Decke gehängt, die vom Altarrum her leicht ansteigt. Diese Holzschirme wirken wie schwebend. Sie sind das auffälligste Elemente des Raumbildes, kaum weniger ungewöhnlich als die spektakuläre Deckenform in Heilig-Geist. Akustik wird in diesem Kirchenraum, gemäß der Bedeutung, die dem gesprochenem Wort im evangelischen Gottesdienst zukommt, durch die Reflektoren geradezu sichtbar. An die Stelle der traditionellen hölzernen Kassettendecke setze Aalto nach eigenem Bekunden eine betont moderne Form, die in gleicher Weise eine gute Akustik gewährleisten konnte. Zugleich liegt in der Schirmform der Reflektoren ein beschützender Gestus.
Wichtig für den Raumeindruck ist wiederum die reduzierte Farbgebung. Das ungebrochene Weiß steigert die optische Wärme des ziegelroten Fußbodens und des Holztons der Deckenreflektoren. Die Lampen mit ihrem spärlichen goldenen Messingreflexen setzen wichtige Glitzerakzente. Der Raum wirkt dennoch auf den ersten Blick ausgesprochen kühl, fast zu sachlich. Auch erscheint die Raumgestalt im Vergleich mit der Heilig-Geist-Kirche statisch. Zum profanen Charakter tragen auch die Deckenreflektoren bei, wie man sie eher aus Vortrags- und Konzertsälen kennt, weniger aus Kirchen. Tatsächlich hat Aalto in keinem anderen Kirchenraum die Versachlichung, ja Profanierung der Raumatmosphäre so weit getrieben wie hier.
Zwar sind die Raumzonen differenziert belichtet. Aber auch hier gibt es nur Unterschiede zwischen hell und sehr hell. Bei längerer Betrachtung wird jedoch deutlich, daß Aalto bestechend schöne Lichtakzente gesetzt hat, und zwar im Altarbereich. Nur dort gibt es auch jene Kurvenbewegungen, die in Heilig-Geist den ganzen Raum beherrschen. Rechts und links vom Altartisch fältelt sich die Stirnwand in sanften Schwüngen - wie ein Vorhang, in den von hinten ein Windstoß fährt. Zur Decke hin scheint die Wand nach vorn zu fallen - ein textiler Effekt, unauffällig, doch im Kontrast zur harten Geometrie des Restraumes ungemein wirkungsvoll. Durch die große Lichtbucht linkerhand fällt helles Streiflicht auf die Altarwand und läßt die plastischen Formationen schön hervortreten. Daß die kristallinen Raumlinien ausschließlich im Altarbereich eine solche Belebung erfahren und durch Licht gemeinsam zum Schmelzen gebracht werden, unterstreicht die geistige Bedeutung dieser Raumzone.
Aalto hat beim Entwurf der Stephanus-Kirche die Absicht, profane und sakrale Atmosphäre zu integrieren, mit größerer Radikalität durchgeführt als bei der Heilig-Geist-Kirche, die als expressive Architekturplastik einen gewissen Ausnahmecharakter sakralen Bauens für sich beansprucht. Die vergleichsweise neutrale Architektur der Stephanus-Kirche erweist sich dagegen als offen auch für solche Zwecke des Gemeindelebens, die über die im engeren Sinne gottesdienstliche Nutzung hinausgehen. Die für Aalto kennzeichnende sachliche Festlichkeit macht den spezifischen Wert dieser Raumschöpfung aus.

Die Ausstattung

Anders als im Falle der Heilig-Geist-Kirche ist die Ausstattung der Stephanus-Kirche nicht durchgängig von Aalto entworfen worden. Dies war unvermeidliche Folge eines Auslandsauftrags, dessen Durchführung die stete Präsenz des Architekten schwierig machte. Insbesondere Altarkreuz und Orgel sind raumbestimmende Elemente, die als Zutaten aus späterer Zeit in der realisierten Form nicht auf Aaltos Ideen zurückgehen. Während die Kanzel ähnlich wie in Heilig-Geist gestaltet ist, wählte Aalto für den Altar die funktionale Gestalt des Tisches. Aus dem edlen Material (Carrara-Marmor) gewinnt der einfache Abendmahlstisch seine unaufdringliche Monumentalität. Im Chorraum der Kirche hängt seit Karfreitag 1974 ein von dem Wolfsburger Bildhauer Jochen Kramer (1935-1988) geschaffenes Kreuz, das als Mobile in Metall ausgeführt ist. Seine in ein kreuzförmiges Raster eingehängten beweglichen teile sind vielfach durchbrochen. So entstehen je nach Lichteinfall und Konstellation der einzelnen Elemente unterschiedlicher Reflexe und Schattenwirkung auf der Altarwand.
Wegen des abschüssigen Baugeländes bot sich der Raum unter der Kirche als Taufkapelle an. Der Taufstein steht unter dem Altarraum, zu dem man über eine breite Treppe im Foyer des Gemeindezentrums gelangt. In dem nur mäßig belichteten Raum herrscht im Unterschied zur Kirche eine ausgesprochen kontemplative Atmosphäre, die Aalto selbstverständlich auch zu schaffen verstand. Ein mit dichten Holzlamellen verblendetes Fenster läßt gedämpftes Streulicht in den kryptenartigen Raum, dessen Zentrum der Taufbrunnen aus Marmor bildet.

Die Orgel

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Orgel

Die Orgel stammt aus der traditionsreichen Werkstatt Hermann Eule in Bautzen (Sachsen). Die 1872 gegründete Firma lieferte auch während der DDR-Zeit zahlreiche Orgeln in westdeutsche Kirchen. Das Instrument entstand in zwei Bauabschnitten (1970/1975) und verfügt über Schleifladen mit mechanischer Spiel- und Registertraktur. Die Disposition ist mit 20 Registern, dem damaligen musikalischen Zeitgeschmack entsprechend, an Vorbildern des barocken Orgelbaus orientiert. Im Unterscheid zur Flentrop-Orgel in Heilig-Geist läßt die Eule-Orgel einen kräftigen Grundstimmenaufbau mit gravitätischerem Klang vernehmen. Der Entwurf des Orgelgehäuses mit asymmetrisch versetzten Kästen, die die Werkgliederung klar erkennen lassen, stammt von Orgelbaumeister Hermann Eule und wurde von Aalto aus mehreren vorgelegten Varianten ausgewählt. Das Gehäuse zeigt daher nicht die für Aaltos Orgelprospekte typischen Merkmale, wie sie in den Ausführungsplänen für die Stephanus-Kirche vorgesehen waren

 

(Text aus dem Kirchenführer "Heilig-Geist-Kirche und Stephanus-Kirche Wolfsburg" von Holger Brülls. Erhältlich im Gemeindebüro.)

 

vorn
Stephanuskirche von vorn

Stephanuskirche

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Stephanuskirche von vorn

Stephanuskirche

Kirche von hinten
Stephanuskirche vom Parkplatz aus

Stephanuskirche

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Altarraum

Der Altarraum

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Altarraum mit Decke

Der Altarraum

Der Altarraum mit Kanzel und Deckenplatten

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Deckenplatten im Kirchraum

Kirchendecke

Deckenplatten im Kirchraum

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Kreuz

Das Kreuz

Kreuzmobile von Jochen Kramer